MICHAEL BUCHINGERS UNTERSTE SCHUBLADE #2 | FAUX FOX Magazine

MICHAEL BUCHINGERS UNTERSTE SCHUBLADE #2

24.10.13
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Die Feier.
Oder: Es lebe der Zentralfriedhof

Als ich Fuß in das liebe- und mühevoll dekorierte Wohnzimmer meiner Nachbarin setzte, fühlte ich mich sofort fehl am Platz. Selten hatte ich eine so festlich geschmückte Geburtstagstafel gesehen; gigantische Blumensträuße in antiken Kristallvasen zierten den Tisch, der mit Festtagsporzellan und aufwendig gestalteten Serviettenkunstwerken gedeckt war, der süßliche Geruch von hausgemachten warmen Mehlspeisen lang in der Luft. Auf den ersten Blick schienen sämtliche Bewohner des Hauses der Einladung zum Geburtstagsfest der eleganten Dame aus Stockwerk 4 nachgekommen zu sein. Fast schon panisch hielt ich Ausschau nach dem älteren Pärchen, dessen Wohnung gegenüber meiner liegt und das mich wohl etwas zu gut kennt, denn ich habe zwar keine Vorhänge, jedoch eine Vorliebe für Nacktyoga.

Ich war zu jenem Zeitpunkt noch ein Neuling in Wien und so überraschte es mich umso mehr, dass meine Nachbarin Angelika mich (zusammen mit dem Rest der Hausbewohner) gleich zu ihrer Geburtstagsfeier eingeladen hatte. Da ich an diesem Tag die Wahl zwischen der Feier und einem weiteren einsamen Abend bei Rotwein und „Mord ist ihr Hobby“ hatte, sagte ich zu – nicht zuletzt, weil mir Angelika versprochen hatte, dass es eine Gaudi werden würde. Für eine echte Gaudi bin ich bekanntlich immer zu haben!

Mein bisheriger Kontakt zu den anderen Bewohnern des Hauses hatte sich auf ein Minimum beschränkt, vor allem, da die meisten meiner Nachbarn sich in etwa im Alter meiner Großeltern befinden entsprechend senil sind; erst vor Kurzem hatte ich mich im Aufzug neben einem alten Mann wiedergefunden, der mir eine Menge Komplimente über meinen roten Hut, den er mich ein paar Tage zuvor anscheinend tragen hätte gesehen, machte. Ich wies ihn höflich darauf hin, dass ich nie Hüte tragen würde – geschweige denn rote – doch er beharrte auf seiner Unterstellung: „Sie haben ganz sicherlich einen Hut getragen! Einen roten!“ Aus Angst, eine Diskussion über die Existenz meines roten Hutes, könnte zu einem Schlaganfall auf beiden Seiten führen, fügte ich mich: „Ach, Sie meinen den roten Hut! Ja, das war wohl ich! Schönen Tag noch.“ Ja, so sind sie, meine Nachbarn.

Gespannt blickte ich mich also im Wohnzimmer des Geburtstagskindes um und wartete darauf, die Bekanntschaft der anderen Gäste zu machen. Angelika war eine äußerst nette und zuvorkommende, wenngleich etwas übereuphorische Gastgeberin. Sie wirkte wie der Typ Frau besten Alters, der im Geheimen eine krankhaft große Anzahl an Porzellanpuppen hortet und ihnen Namen wie „Miss Buttonwood“ gibt, doch war sie mir sofort sympathisch, da sie mir gleich nach meinem Eintreten Wein anbot, welchen ich natürlich dankend annahm und vorsichtig genoss. Normalerweise würde ich das Glas in einem Zug austrinken und dann jemanden beauftragen, es bitte ständig nachzufüllen, doch dies war – wie ich mir ständig in Gedanken rief – meine einzige Gelegenheit, einen guten ersten Eindruck bei der versammelten Nachbarschaft zu machen. Also bemühte ich mich, wie „der höfliche Junge von nebenan, der köstliche Anekdoten auf Lager hat“ und nicht wie „der Alkoholiker, der gerne rote Hüte trägt und sich immer am Fenster entblößt“ rüberzukommen. Dass ich diese Maskerade nicht lange genug aufrecht erhalten konnte, dürfte jedem Leser klarsein. Ich tat gerade so, als fände ich es irrsinnig witzig, dass Herr Huber aus Stockwerk 2 den Euro soeben mit kritischem Unterton als „Teuro“ bezeichnet hatte, als Angelika mit geradezu wahnsinnigem Blick in den Raum gestapft kam, wahllos auf Leute (leider auch auf mich) zeigte und sie aufforderte, ihr zu folgen. Meine Vermutung, sie würde uns im Nebenzimmer entlang der Wand aufstellen und erschießen, stellte sich als falsch heraus. Zettel mit dem Text von „Es lebe der Zentralfriedhof“ wurden ausgeteilt und Angelika setzte sich voller Tatendrang ans Piano: „Jetzt wird gesungen!“ Ach, hätte sie uns doch nur erschossen!

Ich möchte an dieser Stelle anmerken, dass aus bestimmten Gründen, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll, in meiner Familie ein ungeschriebenes Gesetz besteht, das darauf basiert, öffentlichen Gesang tunlist zu vermeiden. An Weihnachten mag es zwar für das bloße Auge so aussehen, als würden wir alle brav mit dem Rest der Großverwandtschaft „Stille Nacht“ singen, doch wer genau hinsieht, erkennt, dass jeder einzelne Buchinger einfach nur den Mund synchron zum Gesang der anderen bewegt.

So war auch mein Plan für den Abend: „Wenn Britney Spears eine ganze Welttournee alleine mit Playback hinter sich bringen konnte kann, schaffe ich das locker auch bei einer Runde Ambros inmitten einer Horde lebendiger Fossilien. Der Großteil meiner Nachbarn war richtig aufgeregt, ob des gleich anstehenden musikalischen Gemeinschaftswerks! Alte Leute lieben sowas, genauso wie sie Dörrpflaumen und ORF2 lieben. Alle zusammen begannen sie, die erste Strophe des schwungvollen Songs zu trällern und ich tat zumindest so, als würde ich das auch tun. Ich benutzte sogar meinen Zeigefinger, um dem Text zu folgen und schnipste in ausgewählten Momenten um Spaß vorzutäuschen. Gerade war ich dabei, meiner Performance mit Jazz-Hands das gewisse Extra zu geben, als auf abrupte Weise die Musik stoppte. Alles wurden still und ich bemerkte Angelika, die mich entgeistert anstarrte, als hätte ich gerade eine ihrer Porzellanpuppen zerschmettert.

„Michael,“ fragte sie, „singst du überhaupt mit?“ Wenngleich mich die meisten Bewohner des Hauses zuvor nicht wirklich gekannt hatten, hatten sie nun sichtlich eine Vorstellung von meiner Person. Ich war der Spaßverderber. Der Zentralfriedhofs-Lügner. Schlimmer als der Grinch! Wie konnte ich nur? Alle Augen waren auf mich gerichtet und sie bestraften mich mit abgrundtiefer Verachtung. „Was habt ihr alle?“, wollte ich am liebsten tränenerstickt rufen. „Ich wollte nie mit euch singen! Für mich ist das hier keine Gaudi! Ich zwinge euch auch nicht, nackt Yoga mit mir zu machen! Ich könnte jetzt gerade zuhause sitzen und ,Mord ist ihr Hobby‘ schauen.“

Stattdessen entschuldigte ich mich schüchtern und gestand stotternd, dass ich leider nicht sehr gerne in der Öffentlichkeit sänge. Angelika wirkte enttäuscht – ich hatte mich nicht nur als schwarzes Schaf, sondern auch als absolute Spaßbremse entpuppt. „Na gut“, war alles, was sie sagte – und ich konnte den Unterton in ihrer Stimme nicht gleich deuten. Am ehesten war es eine Mischung aus abgrundtiefem Hass und enttäuschter Resignation. Die Blicke der übrigen Anwesenden sprachen Bände. Auf einmal herrschte allgemeine Aufbruchsstimmung, der freche Junge aus Stockwerk 5 hatte eh den Abend ruiniert und außerdem wollte man ja nicht die ZIB2 verpassen…

Manchmal, wenn ich jetzt abends in meiner Wohnung sitze, höre ich aus der Wohnung unter mir schrilles und lebensfrohes, gemeinsames Gelächter ertönen. Auch der eine oder andere Ambros-Klassiger erreicht gedämpft meine Ohren. Ich denke daran, dass Angelika vermutlich gerade eine Party schmeißt, zu der alle eingeladen sind – bis auf mich. Sicherlich essen sie Schinken. Einen kurzen Moment lang werde ich melancholisch und denke an jenen Abend zurück – den Abend, an dem ich alles vermasselt habe. Doch dann schalte ich „Mord ist ihr Hobby“ ein, mache mir einen billigen Rotwein auf und genieße das Alleinsein umso mehr. Das ist, in meinen Augen, wirklich eine Gaudi!

(Michael Buchinger – und auf YouTube)

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