MICHAEL BUCHINGERS UNTERSTE SCHUBLADE #6 | FAUX FOX Magazine

MICHAEL BUCHINGERS UNTERSTE SCHUBLADE #6

23.12.13
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Als ich Sperma verkaufte

Ich bin kein Freund von spontanem Sex. Wenn ich Geschlechtsverkehr habe, bevorzuge ich ihn zu einer ausgemachten Zeit, an einem vertrauten Ort und mit einer derart durchdachten Spielstrategie, wie man sie sonst nur vom American Football kennt (oft komme ich sogar erst richtig in Fahrt, wenn ich während des Aktes einen großen Schaumstoff-Finger tragen darf). Doch spätestens seit Sex and the City wird uns vermittelt, dass es gesellschaftlich akzeptiert wird, auf einer Cocktailparty zu zweit in die Abstellkammer zu verschwinden, um mal eben ein Stück auf der alten Fleischflöte zu spielen (so nenne ich Sex). Selbst in einem kritischen Zuseher wie mir entfacht dabei das geheime Verlangen, impulsiver mit der Partnerwahl umzugehen. Doch wie damals, als ich in einen Frisörsalon platzte und nach einem „Rachel-Haarschnitt“ verlangte, sollte ich schon bald lernen, dass gewisse TV-Trends lieber nicht in die Realität umgesetzt werden sollten.

Vor einiger Zeit verkaufte ich meine Kleidung auf einem Flohmarkt. Ich hatte diese Veranstaltung Wochen zuvor im Internet angekündigt und zu meiner Verwunderung waren tatsächlich viele junge Leute gekommen, um meine Stücke zu erwerben. Warum um Himmels Willen jemand für T-Shirts bezahlen würde, die ich schonmal getragen hatte, bleibt mir bis heute ein Rätsel. Tage nach dem Flohmarkt sollte ich zufällig entdecken, dass viele der Shirts, die ich verkauft hatte, bei H&M nicht nur um die Hälfte meines Verkaufspreises, sondern auch ohne Nutellaflecken erhältlich waren. Dies mag zum Teil damit zu tun haben, dass ich ohne jegliche Vorbereitung an diese Operation herangegangen war und mir die Preise einfach spontan, und auf der Sympathie des Kunden basierend, ausdachte. Ich war gerade dabei, ein naives Mädchen über den Tisch zu ziehen, als plötzlich Raphael Bayer in der Tür stand und mich angrinste: „Hallo Michael, darf ich ein Shirt kaufen?“, fragte er neckend.

Raphael Bayer ist ein Junge, den ich zuletzt drei Jahre zuvor gesehen hatte. Damals war ich gerade auf einer Party im Burgenland, als er resolut über die Tanzfläche auf mich zumarschiert kam. „Möchtest du mit mir herummachen?“ fragte er, ohne sich vorzustellen. Dies war mir äußerst sympathisch, zumal es mir allmählich auf die Nerven ging, bei anderen Typen ständig Begeisterung über ihre Garagenbands oder Poesie-Blogs vortäuschen zu müssen, bevor wir endlich den Mund des anderen attackieren konnten. So gingen wir in den naheliegenden Park, um „herumzumachen“, was für mich im zarten Alter von 16 lediglich bedeutete, einander ähnlich leidenschaftlich zu berühren, wie man es sonst nur vom Security-Check am Flughafen gewohnt ist. Sobald unsere kleine Schmuse-Session ihr Ende genommen hatte, meldete Raphael sich zu Wort. „Wir sollten bald auf einen Kaffee gehen!“ schlug er vor, bevor sich unsere Wege trennten. „Ja, machen wir das!“, entgegnete ich ihm mit genau so viel Enthusiasmus, als hätte er mich gerade auf ein David Hasselhoff-Konzert eingeladen. Ich kannte mich gut genug um zu wissen, dass jede Bekanntschaft, die ich um 3 Uhr morgens machte, keine sonderlich große Zukunft haben würde.

Doch weit gefehlt! Drei Jahre später stand Raphael nun vor mir und erklärte mir, im Internet meine öffentliche Flohmarkt-Einladung gesehen und die Chance ergriffen zu haben, mich zu besuchen. Im Normalfall hätte ich in so einer Situation bereits angefangen, seinen Namen mit wasserfestem Stift quer über meinen Körper zu schreiben, um die Ermittlungen zu erleichtern, falls meine Leiche in der Donau gefunden werden sollte, doch in jenem Moment fand ich seine Geste viel zu süß, um davon sonderlich alarmiert zu sein. Schon bald versanken wir in einem netten Gespräch, während ich auch das endgültig letzte meiner Kleidungsstücke verkaufte. Der Flohmarkt war noch längst nicht zu Ende und rein theoretisch musste ich noch mindestens fünf Stunden dort bleiben, hatte jedoch keine Ware mehr. „Hmm, ich muss jetzt kurz in meine Wohnung, um noch weitere Kleidungsstücke rauszusuchen.“, unterbrach ich unsere Unterhaltung. Weil ich Tage zuvor unabsichtlich die „Alle Episoden abspielen“-Option auf meiner Sex and the City-DVD erwischt hatte, schoss mir zugleich noch eine grenzgeniale Idee in den Kopf: „Möchtest du mir vielleicht tragen helfen?“, fragte ich Raphael mit meinem Schlafzimmerblick, der von der Allgemeinheit jedoch viel zu oft als „Down-Syndrom Blick“ aufgefasst wird. Er willigte ein und zugleich machten wir uns auf den Weg in meine Wohnung.

Wäre diese Kolumne ein Liebesroman von der Supermarktkassa, würde ich nun vermutlich sowas schreiben wie: Als wir umringt von T-Shirts am Wohnungsboden saßen und gemeinsam die zu verkaufende Kleidung selektierten, konnte ich meine überschwappende Lust auf Raphael nicht länger in Zaum halten. „Tu es!“, platze es aus mir heraus. „Bring zu Ende, was du in jener Nacht gestartet hast!“. Unsere Blicke trafen sich. „Bist du sicher? Wir müssen schnell zurück sein, man wartet doch auf dich!“, entgegnete mein Gegenüber vernünftig. „Ich habe drei Jahre lange auf dich gewartet! JEDEN TAG HABE ICH GEWARTET!“ waren die letzten flehenden Worte, die meinen Mund verließen, bevor mich Raphael im Sturm der Leidenschaft zu Boden drückte. — Zum Glück ist diese Kolumne aber kein solcher Liebesroman, weswegen ich meinen Lesern derartige Details ersparen werde (ein erleichtertes Schnauben geht durch die Menge). Obwohl keine Zeit für das volle Programm blieb, behaupte ich, dass dieses Experiment definitiv besser geglückt ist, als mein einstiger Rachel-Haarschnitt. Unsere Wege trennten sich erneut, aber dieses Mal gedachte ich, mein Kaffee-Versprechen einzuhalten.

Gut gelaunt marschierte ich zurück auf den Flohmarkt, um die ausgesuchten Kleidungsstücke zu verkaufen. Mein postkoitales High sollte jedoch verschwinden, als ich die Teile auspackte und merkte, dass ein weißes Shirt auf der Vorderseite einen merkwürdigen, feuchten Fleck trug. „Seltsam“, sagte ich mir, während ich ihn genauer inspizierte und mich fragte, wann ich denn je auf unachtsame Weise ein Eiweiß-Omelette zubereitet hatte. Doch schon bald dämmerte mir, dass es Raphael und mir wohl gelungen war, den Monica Lewinsky Skandal von 1998 sehr detailgetreu nachzustellen. Das betroffene Teil trug ironischerweise die Aufschrift „Likes Boys“ und manchmal trug ich es, um zweifelnde Personen auf meine sexuelle Orientierung hinzuweisen. Irgendwann kam jedoch der Zeitpunkt, an dem ich realisierte, dass es wohl genau so viel Sinn machte, in einen Supermarkt zu gehen und jede einzelne Tomate mit den Worten „Das ist eine Tomate“ zu beschriften. Danke, Sherlock Buchinger!

Ich war gerade dabei, panisch über meinen nächsten Schritt nachzudenken, als ich aus meinen Gedanken gerissen wurde. „Entschuldigung, wieviel kostet das?“, fragte ein blondes Mädchen, welches sich wie ein auf Sperma spezialisierter Spürhund ausgerechnet für das betroffene Shirt entschieden hatte. „Das ist nicht verkäuflich!“, stammelte ich panisch; gewillt, im Notfall auch so zu tun, als wäre mir das Teil von meiner Großmutter mit ihrer letzten Kraft auf dem Totenbett überreicht worden. „Aber es liegt doch auf dem Verkaufstisch, wie kann es dann nicht verkäuflich sein?“. Das Mädchen hatte ein Argument. Weil die anderen Shirts ebenfalls ein bisschen älter waren, riet ich ohnehin jedem Kunden, die Kleidung vor dem Tragen zu waschen. Was war so schlimm an einem kleinen Fleck? Wenn überhaupt, dann machte das Mädchen einen großartigen Deal: Wer konnte schon von sich behaupten, für 10€ ein Shirt und eine Samenspende erhalten zu haben?

Dennoch musste ich mein Gewissen beruhigen: „Wie alt bist du denn?“, fragte ich vorsichtig, als würde ich einfach nur Smalltalk machen und nicht herausfinden wollen, ob ich für diesen Verkauf rein theoretisch ins Gefängnis wandern konnte. „Ich bin 18!“. „VERKAUFT!“, schrie ich wohl ein bisschen zu laut, sodass sich alle anderen Flohmarkt-Besucher verwirrt zu mir umdrehten. Jeder, der legal Alkohol kaufen konnte, war meiner Meinung nach auch dazu befugt, Sperma in kleinen Mengen zu erwerben. Das Mädchen gab mir Geld und ich steckte ihr Shirt in eine Tüte. „Mein Bruder wird sich freuen!“, sagte es schließlich. „Dein Bruder?“, hakte ich nach. Mir schwante Böses. „Ja, ich glaube dass er schwul ist. Mal sehen, er ist ja erst 16!“, sagte es und verschwand aus der Tür. An jenem glorreichen Tag habe ich endgültig meine Lektion gelernt: Wenn ich einmal versuche, ein bisschen spontaner zu sein, enden meine Bemühungen unvermeidlich damit, dass ich unabsichtlich Sperma an ein Mädchen verkaufe.

(Michael Buchinger – und auf YouTube)

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