MICHAEL BUCHINGERS UNTERSTE SCHUBLADE #4 | FAUX FOX Magazine

MICHAEL BUCHINGERS UNTERSTE SCHUBLADE #4

21.11.13
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Als ich das eindrucksvolle Bankgebäude im Herzen Wiens betrat, war ich ein wenig beunruhigt. Erst Tage zuvor hatte ich das Minus auf meinem Kontostand durch den Kauf einer schicken Winterjacke verdoppelt – würde ich beim Betreten des Towers nun lichterloh in Flammen aufgehen? Es war selbst für mich schwer zu glauben, dass ich schon in wenigen Minuten ein Vorstellungsgespräch hier haben würde. Wie konnte es überhaupt so weit kommen, dass ich – der Junge, der heruntergefallenes Geld mit den Worten „Ist es kein Schein, lass es sein!“ aus Faulheit einfach liegen lässt – sich ausgerechnet um einen Bankjob bewirbt? Um dies zu erläutern, muss ich ein wenig ausholen.

Ich bin kein großer Freund von Geburtstagen. Es scheint mir geradezu ironisch, dass ich mich 364 Tage im Jahr darum bemühe, die Aufmerksamkeit aller Menschen unter anderem durch meine YouTube-Videos auf mich zu ziehen, und dann just an dem Tag, an dem sie mir tatsächlich gebührt, nicht mit ihr umzugehen weiß. Aus diesem Grund hatte ich an meinem 20. Geburtstag im späten Oktober schon frühmorgens und ohne Telefon das Haus verlassen, um einen isolierten Herbstpaziergang entlang der Wiener Praterallee zu machen. Doch wer hätte gedacht, dass ein ganz gewöhnlicher Spaziergang eine Identitätskrise in mir hervorrufen konnte?

Ich stieß gerade melancholisch das Laub vor meinen Füßen hin und her und sinnierte darüber, wie die gefallenen Blätter Jahr für Jahr auch die Vergänglichkeit meiner Lebensjahre symbolisieren, als ich plötzlich hinter mir einen Schrei vernahm. Ich drehte mich um – ein junges Mädchen eilte in meine Richtung.
„Oh mein Gott!!!“, rief es aus der Ferne, „Ich kenne Sie aus dem Internet!“ Einen Moment lang sah ich mein Gegenüber verwirrt an, bevor ich mich verdutzt umblickte. Mit wem sprach dieses meschuggene Mädchen bloß? Meinte es wirklich mich? Aber nein, es konnte nicht sein. Sicher stellte die alte Dame, die unweit von mir ebenfalls durchs Laub trottete, Strick-Tutorials ins Internet. Das war es! Unbekümmert ging ich weiter. „Halt, stopp! Herr Buchinger, ich möchte ein Foto mit Ihnen machen!“.
Autsch! Das war genau die Sorte Situation, die ich an meinem Geburtstag eigentlich vermeiden wollte. Nichts tut meinem Ego wohler, als neben etlichen „Boah, jetzt bist du alt!“-Witzen nun auch noch gesiezt zu werden. Das teuflische Mädchen verstand es wirklich, Salz in eine offene Wunde zu streuen – vermutlich würde es gleich zum nächsten Rollstuhlfahrer gehen und vor seinen Augen eine wilde Stepptanznummer hinlegen.

Ich möchte klarstellen, dass ich keine dieser Personen bin, die nicht damit umgehen kann, dass sie älter wird, wie meine schrullige Nachbarin Sybille, die sich immer noch als „54 Jahre jung“ vorstellt und bei mir schon des öfteren ihre Liebe für den schwarzen Rapper „Jay Zed“ bekundete. Mein Problem besteht vielmehr darin, dass ich mich, obwohl ich rein theoretisch schon seit zwei Jahren „erwachsen“ bin, kein bisschen selbstständig oder verantwortungsbewusst fühle.

In meiner Küche gibt es eine Glühbirne, die seit einem halben Jahr nicht funktioniert – anstatt sie zu wechseln, löse ich das Problem einfach damit, bei Finsternis den Kühlschrank zu öffnen. Es grenzt an eine Sensation, wenn ich einmal zwei Socken trage, die auch tatsächlich zusammen gehören und ich bin noch nie in meinem Leben, nicht einmal in den Ferien, einem richtigen Beruf nachgegangen (das ist, nebenbei bemerkt, der dritte Aspekt meines Lebens, den ich mit Kim Kardashian gemeinsam habe – wir haben auch beide am selben Tag Geburtstag und einen phänomenalen Hintern). Ich hatte im Alter von 20 Jahren also weder Berufserfahrung, noch sonderlich große Ambitionen für die Zukunft und war von einer Beziehung weiter entfernt als Lindsay Lohan von der „Vorbildes des Jahres“-Auszeichnung. Ich war, in anderen Worten, ein wunderbares Fallbeispiel des Peter-Pan-Syndroms. In eben jener herbstlichen Umgebung fasste ich daher den Entschluss, endlich erwachsen zu werden, diese nervige Glühbirne zu wechseln und mein Leben auf die Reihe zu bekommen.

Eine Woche später schlug ich die Tür des Taxis zu und eilte durch die mittlerweile eisige, nach Schnee duftende Herbstluft in die Lobby des Banktowers, wo ich mir von einem Mann im Anzug ein Schild mit der Aufschrift „Besucher“ an meinen Blazer anbringen ließ. Ich wollte seriös wirken und dennoch einen ausgefallenen Eindruck machen, deswegen trug ich einen roten Blazer, dunkelblaue Skinny Jeans und schwarze Doc Martens. Der übertrieben ernste Portier flüsterte mir zu, ich solle mit dem Aufzug in den 11. Stock fahren und vor der verschlossenen Tür warten, bis ich hereingebeten wurde. Ich kam mir vor wie bei einer Geheimgesellschaft und wollte schon fragen, ob er mir nicht auch den geheimen Handschlag beibringen könne, entschied mich dann jedoch dagegen. Ich dankte ihm und tat, was er mir aufgetragen hatte. Im 11. Stock angekommen, wurde ich von Herrn Klemm, einem älteren Bankier mit grau meliertem Haar, in eine große, helle Kantine geführt, durch deren mehrstöckiges Glasfenster man über einen wunderschönen, herbstlichen Park sehen konnte. Ich sah, dass alle anderen Männer in der Kantine schwarze Blazer trugen und musste schmunzeln.

Herr Klemm wies mich freundlich darauf hin, dass ich mir vom Buffet ruhig alles nehmen konnte, was mein Herz begehrte. Im Normalfall wäre dies der Startschuss für mich gewesen, um so viele Fleischgerichte und Desserts wie möglich auf meinen Teller zu laden und die Kantine auf diesem Wege in den Konkurs zu treiben, aber da ich an jenem Tag ja „seriös“ sein wollte, verlangte ich lediglich nach einem Glass Wasser. So setzten Herr Klemm, sein Assistent und ich uns an einen kleinen Tisch direkt an der Glasfront, um unsere zukünftige Zusammenarbeit zu diskutieren.

Ich will hier nicht zu sehr ins langweilige Detail meines Business-Gespräches gehen, da ich in jenem Moment – obwohl die Unterhaltung eigentlich ganz gut verlaufen war – gedanklich selbst ein bisschen abdriftete. Doch gerade, als Herr Klemm mir erklärte, wie ich Social-Media-technisch mithelfen könnte, erspähte ich in meinem Augenwinkel etwas, was meine Stimmung gehörig heben sollte. „JUHU!!! Es schneit!“, schrie ich viel zu laut und fiel meinem Gegenüber dabei genau ins Wort. Als ob das nicht schon schlimm genug wäre, setzte ich noch einen drauf: „Ich habe den Schnee vorhin schon gerochen!!!“ Alle Augen in der Kantine waren nun auf den merkwürdigen Schnee-Schnüffler im roten Blazer gerichtet.

Ich möchte an dieser Stelle anmerken, dass ich nicht völlig bekloppt bin, sondern den ersten Schneefall des Jahre einfach nur wunderschön und äußerst symbolisch finde. Schnee ist wie eine positive Lebenseinstellung: Er verhüllt die kleinen Imperfektionen des Alltags und lässt jede noch so düstere Umgebung sofort weniger trist wirken. Ich kann es daher überhaupt nicht nachvollziehen, wenn andere Menschen meine Liebe für Schnee nicht teilen. Aus diesem Grund gab es eine unangenehme Spannung, als Herr Klemm mich entgeistert ansah, so als hätte ich gerade „Die Mondlandung ist eine Lüge und ich glaube Gott ist eine Frau!“ geschrieen. Nach einigen Momenten der unangenehmsten Stille, die ich je erlebt hatte, seufzte mein Gegenüber laut. „Toll. Schnee im Oktober. Morgen gibt es sicher ein Verkehrschaos.“ Ach Herrje! Mürrische Menschen, die beim ersten Schneefall des Jahres sofort an ein Verkehrschaos denken, sind mir zudem äußerst unsympathisch. Würde ich etwa einer von ihnen werden, wenn ich hier zu arbeiten anfange? Würde ich mein Gespür für Schnee verlieren?

Während sich der erste Schnee beruhigend über Wien legte und das spätherbstliche Grau-in-Grau allmählich unter der weißen Decke verschwand, verließ ich eiligen Schrittes das Bankgebäude mit der Erkenntnis, dass ich meinen gut gemeinten Neuanfang wohl am falschen Ort gewagt hatte. Falls „erwachsen sein“ wirklich bedeutet, Tag ein, Tag aus in schwarzen Anzügen in einem Gebäude zu sitzen wie Drohnen in einem Bienenstock und dabei kein einziges Mal aus dem Fenster zu sehen, so bin ich lieber ein kindischer Junge in einem roten Blazer und nicht zusammenpassenden Socken, der große Freude an den kleinen Dingen des Lebens empfindet. Denn mir war zwar noch ungewiss, womit ich die weiße Leinwand meiner gerade erst begonnen Zwanziger füllen würde, aber eines wusste ich bereits: Ein eintöniger Bankjob würde es definitiv nicht werden.

(Michael Buchinger – und auf YouTube)

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